Arbeiter*innen gegen Amazon und Covid-19

Ein essenzieller Streik: Interview mit einem Amazon-Arbeiter aus Piacenza über die Kämpfe während der Pandemie

Gianpaolo, arbeitet seit acht Jahren im Amazon-Lagerhaus in Piacenza (MXP5) und nahm im September an der Versammlung der Amazon Workers International in Lille teil, an der Arbeiter*innen aus Frankreich, Deutschland, Polen und den Vereinigten Staaten vertreten waren. In den Monaten der Pandemie machte die transnationale Organisation der Arbeiter*innen Amazons einen Schritt nach vorn mit einer Welle von Protesten und Streiks, die die Lagerhäuser auf der ganzen Welt erschütterten. Und Sie stellte eine Reihe von gemeinsamen Standpunkten und Forderungen auf transnationaler Ebene auf, die das Unternehmen in Angst und Schrecken versetzten und es zwangen, zu reagieren. Mehr als 19.000 Amazon-Arbeiter*innen hat Covid-19 allein in den Vereinigten Staaten erwischt, wie aus einem Bericht über die Ansteckungen hervorgeht, den das Unternehmen mit extremer Verspätung und nach mehrfacher Aufforderung veröffentlichte. Gianpaolo sagt, dass in Piacenza Amazon zu Beginn der Pandemie der Einführung von Gesundheitsmassnahmen nur zugestimmt habe, weil es durch einen dreizehntägigen Streik und eine massenhafte Weigerung, aus Angst vor Ansteckung zur Arbeit zu gehen, dazu gezwungen wurde. Darüber hinaus geht das Problem der sanitären Bedingungen in den Lagerhäusern auf die Zeit vor der Pandemie zurück. Amazon nutzte die Massnahmen zum Social Distancing, um die Kontrolle über die Arbeiter*innen zu verschärfen und Disziplin in den Lagerhäusern durchzusetzen. Die Streikwelle der letzten Monate war nicht nur deshalb wichtig, weil sie das Unternehmen zwang, die Löhne zu erhöhen und die anfängliche Verweigerung, ein Mindestmass an Sicherheitsstandards zu respektieren, aufzugeben, sondern auch, weil sie den Beschäftigten in aller Welt zeigte, dass "sie nicht völlig allein sind". Aus diesem Grund ist es in Italien so wichtig, Verbindungen zu anderen Lagerhäusern in Europa und darüber hinaus herzustellen. Mit Gianpaolos Worten: "Um Amazon zu schlagen, brauchen wir eine grössere Kraft als bei jedem anderen Gegner": Die transnationale Organisation ist der Weg, diese Kraft zu sammeln. In diesem Sinne beschloss die Versammlung von Lille, eine gemeinsame Kampagne zum Black Friday zu starten, in deren Mittelpunkt die Forderung steht, die in den ersten Monaten der Pandemie erhaltene Prämie von zwei Euro beizubehalten und gemeinsam dafür zu kämpfen, dass die Schutzmassnahmen in den Lagerhäusern respektiert werden, da die Pandemie noch nicht überwunden ist.

Amazon verpackt in solch riesigen Hallen. Bis zu mehreren Tausend Menschen arbeiten in den Verpackungszentren.

Bild: Amazon verpackt in solchen riesigen Hallen die Pakete. In den Hallen arbeiten meist mehrere Tausend Menschen.

Precarious Disconnections: Kannst du uns über deine Arbeitserfahrung im Amazon-Lagerhaus in Piacenza berichten? Wie hat sich das Lagerhaus verändert?


Gianpaolo: Ich arbeite dort seit 2012 und habe als Green Badge [Leiharbeiter*innen] angefangen. Etwa dreissig Mitarbeiter*innen begannen 2011 mit dem Lager, das nach 2013, als wir noch das einzige italienische Lager waren, 6000 Mitarbeiter*innen erreichte, während wir heute etwa 1800 fest Angestellte sind. Wenn man anfängt, für Amazon zu arbeiten, merkt man nicht, was das wirklich ist. Amazon lässt sich in armen Gebieten mit der höchsten Arbeitslosigkeit nieder und nutzt diese Situation zu seinem Vorteil aus. Amazon bringt Arbeit und schafft einen scheinbar professionellen Auswahlprozess: Vor allem in den ersten Jahren wirst du durch bestandene Tests ausgewählt. All dies führt dazu, dass du die Arbeit bei Amazon zunächst positiv siehst. Sie wird als eine Arbeit dargestellt, bei der Sicherheit an erster Stelle steht. Das Motto lautet: "Arbeitet hart. Habt Spass. Schreibt Geschichte". Das Arbeitsumfeld ist sehr jung, anscheinend gibt es niemanden, der kontrolliert, was du tust. Zuerst lenkt alles von der Arbeitsrealität ab. Dann, im Nachhinein, versteht man die Dinge. Früher hat man uns 15 Minuten früher zu unbezahlten Briefings eingelassen, bei denen die Manager*innen uns sagten: Entweder ihr arbeitet gut und sonst gibt es viele Leute, die hier arbeiten möchten. Sie erhöhen ständig den psychologischen Druck, und das führte dazu, dass du wie verrückt gerannt bist, denn das Ziel war es, durch einen Prozess, der zwangsläufig von hoher Produktivität und einer positiven Einstellung zur Arbeit abhing, fest angestellt zu werden. Eine sehr bedeutende Veränderung war 2013, als sie das neue 100.000 Quadratmeter grosse Lager (MXP5) mit einer viel grösseren Zahl von Arbeiter*innen eröffneten. Mit dem Übergang zum neuen Lagerhaus hat sich das Management stark verändert und die Art und Weise, wie sie uns behandeln, verhärtet und verschlechtert.


Was geschah im Lagerhaus nach Beginn der Pandemie und was hat sich seit dem Streik im März verändert?


Zu Beginn der Pandemie gab es keine Handschuhe, keine Masken, es gab Desinfektionsgel, aber in sehr begrenzten Mengen. Nach dem Streik im März, der dreizehn Tage dauerte, gab es eine Vereinbarung mit den Gewerkschaften, die zweifelsohne Verbesserungen mit sich brachte: Eingeschränkter Zugang, Abstand der Arbeitsposten, ein Mindestabstand von zwei Metern zwischen den Arbeiter*innen. Nach dem Streik wurde ein Ausschuss eingerichtet, dem Gewerkschaftsvertreter*innen, Sicherheitsbeauftragte und einige vom Unternehmen ausgewählte Beschäftigte angehören. Der Ausschuss war insbesondere für die Kontrolle der Ein- und Ausgänge zuständig, aber auch, um Versammlungen zu vermeiden. Das Instrument des Ausschusses wäre sinnvoll, wenn er wirklich Macht hätte, während in Wirklichkeit alles über das Unternehmen läuft, das die Ratschläge des Ausschusses umsetzen kann oder auch nicht, so dass im Grunde das Unternehmen über alles entscheidet. In Piacenza hat der Streik mehr erreicht als anderswo, weil wir uns schon seit Jahren organisieren: Wir sind 2016 der Gewerkschaft beigetreten, es gibt also eine Organisationsstruktur, eine starke Gruppe und eine Diskussion mit dem Unternehmen, die schon viel länger andauert. Die Teilnahme am Streik war ziemlich gut, aber das lag auch daran, dass viele Menschen krank geschrieben waren oder einfach nicht zur Arbeit gehen wollten, weil sie Angst vor einer Ansteckung hatten. Genau um dieser weit verbreiteten Abwesenheit entgegenzuwirken, legte Amazon die Lohnerhöhung von zwei Euro pro Stunde für alle Lockdown-Monate auf den Tisch. Was uns jedoch letztendlich wieder zurück an die Arbeit brachte, war die Umsetzung von Hygienemassnahmen, die Verwendung von Masken, Abstände, begrenzte Einfahrten und die Verwendung von Handschuhen. Dinge wozu das Unternehmen auch durch die von der Region und der Regierung erlassenen Verordnungen gezwungen war, einzuführen. Das Problem ist, dass am Ende des Streiks, als diese Massnahmen umgesetzt wurden, die Berichterstattung nachliess. Am Tag zuvor war Amazon der Bösewicht, der keine Masken abgab, und am nächsten Tag war Amazon der Retter der Nation, der alle mit lebenswichtigen Gütern oder angeblich solchen versorgte. Amazon machte Propaganda, indem sie 500,000 Euro an das italienische Rote Kreuz, 100.000 Euro an das Rote Kreuz von Piacenza und 100.000 Masken an die Stadt Piacenza spendete. Amazon tut jedoch nie etwas umsonst. Das ärgert mich persönlich. Denn wir wissen sehr gut, dass sie uns ohne Schutz, ohne Masken, ohne Handschuhe arbeiten lassen wollten, aber nach dem Streik mussten sie ihre Haltung ändern und versuchen, sich anders zu präsentieren. Tatsächlich haben sie nur das Nötigste getan.

Auch in den USA gab es Streiks.

Bild: Auch in den USA kam es zu Streiks aufgrund der mangelnden Umsetzung von Hygienestandards.


Wie ist die aktuelle Situation in Bezug auf Sicherheit und Ansteckungsgefahr?


Eigentlich gibt es auch jetzt noch keinen Abstand von zwei Metern, in den Pick-Türmen zum Beispiel kreuzen sich die Menschen ständig und bilden Gruppen. Kurz gesagt, im Moment lässt die Achtsamkeit bezüglich der Distanzen stark nach, oder besser gesagt, die Manager*innen überwachen und beaufsichtigen vor allem die Produktivität und nicht die Entfernung. Der Ausschuss geht in den Korridoren herum, aber die wenigen, die ihren Kolleg*innen anscheinend wirklich helfen wollen, sind enttäuscht, weil sie sehen, dass das Melden von Risikosituationen nicht zu langfristigen Lösungen des Problems führt. Selbst auf der allgemeinen Sicherheitsstufe herrscht völlige Unaufmerksamkeit, jetzt leeren sie die Gassen, um Platz für Kleidung und Lebensmittel zu schaffen, stapeln die verräumten Gegenstände in Behälter, aus denen die Gegenstände überlaufen und von oben auf die Arbeiter*innen fallen. Einem Mädchen fielen zwei Farbdosen auf den Kopf, aber ein Betriebsarzt versuchte, ihren Arbeitsunfall nicht anzuerkennen und riet ihr, sich krankschreiben zu lassen (aber nicht alle Ärzt*innen sind so). Jetzt investiert Amazon, um sich darauf vorzubereiten, von der zweiten Welle sowie von der allgemeinen Spitze im Herbst zu profitieren. Sie öffnen neue Eingänge und neue Drehkreuze, um sicherzustellen, dass man nur von einer Seite rein- und von der anderen Seite wieder rausgeht. und sicherlich nicht, weil sie uns schützen wollen, sondern um grünes Licht für den Einlass von so vielen Arbeiter*innen wie möglich zu haben. Theoretisch müsste laut der nach dem Streik unterzeichneten Vereinbarung vom März die Anzahl der Mitarbeiter*innen unverändert bleiben, um die Distanzen zu wahren, aber das Unternehmen scheint nicht zu kooperieren und stellt diesbezüglich keine Daten zur Verfügung, sondern bittet lediglich darum, "darauf zu vertrauen", dass sie sich an die getroffenen Vereinbarungen halten. Wir stellen jedoch fest, dass der Parkplatz immer voller wird und weiterhin neue Arbeiter*innen kommen.

Jedenfalls gibt es in Bezug auf die Sicherheit Probleme, die noch aus der Zeit vor der Pandemie stammen: Die Sicherheitsabteilung, die sich um die Sicherheit der Arbeiter*innen kümmern sollte, kümmert sich nur um die Sicherheit, dass sich Amazons Taschen füllen. Es gibt Regeln, wie man die Bewegungen auf eine für den Körper korrekte Art und Weise ausführt, aber das macht keinen Sinn, wenn man die Produktivitätsstandards einhalten muss: Ich kann eine Bewegung so korrekt ausführen, wie ich will, aber wenn ich das 1.000 Mal am Tag tun muss, schadet es mir auf lange Sicht trotzdem. Es gibt Berufskrankheiten, die nicht anerkannt oder oft nicht gemeldet werden. Es gibt Probleme mit Sehnen, Handgelenken und Rücken welche sicher auch von der Tätigkeit abhängen, aber die man mit ziemlicher Sicherheit bekommt, wenn man drei oder vier Jahre lang die gleiche Arbeit machen muss.

Während der Pandemie sagten sie, dass sie aufhören würden, die Produktivität zu kontrollieren, aber jetzt haben sie wieder damit begonnen. Tatsächlich nutzen sie jetzt die Anti-Covid-Gesundheitsmassnahmen um die Produktivität zu kontrollieren. Eines Tages war ich in der Packstation und während ich arbeitete, sprach ich mit einem Kollegen hinter mir, und manchmal drehte ich mich um – aber mit einem Abstand von zwei Metern – und ein Manager kam und sagte mir, ich solle mich weder umdrehen noch reden. Es gibt einen instrumentellen Einsatz von Vorsichtsmassnahmen, um den Kontakt zwischen Arbeiter*innen zu verhindern. Die Software Proxemics [eine Software zur Kontrolle von Ansammlungen und Bewegungen von Arbeiter*innen, die Amazon in den Lagerhallen einführen will] ist ein Werkzeug, das vor der Pandemie entwickelt wurde und eindeutig darauf abzielt, soziale Begegnungen zwischen Arbeiter*innen zu verhindern, das aber versucht, als "Anti-Ansammlungs"-Werkzeug gegen die Pandemie durchzugehen. Seit das Virus sich ausbreitet, ist es für Amazon wie Weihnachten, nicht nur in Bezug auf die Produktivität: Es kann die Pferde so weit auseinander zum Laufen bringen dass sie nicht miteinander reden können und so die Probleme, die sie haben, nicht teilen können. Für Amazon ist es perfekt, sie verhindern Versammlungen und sich ausbreitende Gerüchte: für Amazon ist es ein Segen.

 


Was hältst du von der Lohnerhöhung, die Amazon während der Notlage ausgesprochen hat, und von dem Versuch, einen Austausch zwischen Geld und Gesundheit durchzusetzen?


Ich habe dazu eine traurige Anmerkung. Als die Prämie eintraf, fragte mich ein Kollege, ob ich mit der Erhöhung zufrieden sei. Ich habe geantwortet: "Nein, ich bin sehr gepisst". Seit vier Jahren fordern wir eine Erhöhung, die unsere Ergebnisse anerkennt, denn jedes Jahr sagen sie uns, dass wir uns verbessern, dass die Produktivität höher ist, und sie haben uns eine solche Erhöhung immer verweigert. Nur wenn eine Pandemie kommt und Amazon keine Konkurrenz hat weil alles geschlossen ist, wenn es Abwesenheiten gibt, weil Amazon keine persönliche Schutzausrüstung zur Verfügung stellt, nur dann geben sie uns zwei Euro mehr pro Stunde? Das ist eine enorme Steigerung, seien wir ehrlich. Aber jahrelang sagten sie, sie könnten nicht mehr bezahlen, und plötzlich können sie es? Ich habe noch eine weitere sehr traurige Anmerkung. Einige Gewerkschaften versuchten, das als ihren eigenen Sieg auszugeben, indem sie sagten, dank ihnen sei die Erhöhung gekommen, aber das ist falsch. Es war wegen der internationalen Bewegung, der Streiks und des weltweiten Protests, dass die zwei Euro Zuschlag kamen, nicht dank der Forderungen eines einzigen Lagers. Dann muss gesagt werden, dass diese Erhöhung für Amazon eine Investition darstellte, mit der sie noch mehr Geld verdienen konnten, welche sie aber gerne vermieden hätten. Vor allem die Abwesenheiten und Proteste haben einen Impuls geliefert.

Der Chef Amazons, Jeff Bezos, verdient massiv an den arbeiter*innenfeindlichen Praktiken seines Unternehmens

Bild: Jeff Bezos, der Chef von Amazon verdient in kürzester Zeit so viel wie seine Arbeiter*innen. Daher sollte klar sein, dass das Unternehmen seinen Arbeiter*innen gar nichts schenkt.


Was hat deiner Meinung nach die globale Streikwelle bei Amazon während der Pandemie verändert?


Den Arbeiter*innen wurde klar, dass sie nicht völlig allein waren Das drückte am meisten auf die Stimmung der Beschäftigten bei Amazon, dass sie sich im Kampf gegen diesen Riesen isoliert fühlten. Aber um Amazon zu besiegen, müssen wir eine größere Kraft entwickeln als gegen jeden anderen Gegner. Und in der Tat hat Amazon unmittelbar nach dem Streik im Werk Piacenza das getan, was wir Arbeiter*innen hätten tun sollen: Es hat das Geschehene medial ausgeschlachtet, mit einem Video, das alle von ihnen eingeführten Gesundheitsmassnahmen zeigte. Dies jedoch ohne zu präzisieren, dass sie diese nur in Piacenza eingeführt hatten. Denn von den anderen Standorten wissen wir sehr gut, dass es nicht so war, dass der Schutz völlig anders war. Amazon dringt mit positiver Werbung ins Fernsehen ein. Wir haben vielleicht nicht die Mittel, das Gleiche zu tun, aber wir sollten die falschen Nachrichten von Amazon bekämpfen. Diese Werbungen zeigen Arbeiter*innen, die sagen, dass Amazon ihnen das Leben gerettet hat, als ob Amazon wohltätig wäre. Aber diese Werbungen unterschlagen, was die Arbeiter*innen Amazon geben und die Tatsache, dass das Unternehmen nie etwas umsonst gibt.

Mit dieser Lohnerhöhung hat Amazon gezeigt, dass es in der Lage ist, zentral eine Entscheidung über die Löhne zu treffen, die alle Lagerhäuser weltweit betrifft, gleichzeitig aber die Erhöhungen je nach nationaler Kaufkraft differenziert. Was könnte eine Forderung sein, welche die verschiedenen Bedingungen weltweit vereinen und Amazon gemeinsam herausfordern könnte? Was hältst du von der Forderung nach einem gleichen Lohn für alle Lagerhäuser?

Die Forderung nach einem gleichen Lohn für die gleiche Art von Arbeit könnte ein sehr guter Punkt sein, wir müssen aber noch herausfinden, wie machbar das ist. Ein gleicher Lohn würde viele Dynamiken des Spiels zerstören, das Amazon spielt, zum Beispiel zwischen Polen und Deutschland. Amazon ging nach Polen, das fast keinen heimischen Markt hat, um die polnischen Löhne (etwa ein Viertel der deutschen Löhne) auszunutzen, um die Aufträge des deutschen und europäischen Marktes im Allgemeinen zu erfüllen. Ein gleicher Lohn könnte ein Weg sein, diese Art von Spielen und den Export von Arbeitskräften in ärmere Länder zu vermeiden. Man muss rausfinden, wie man das konkret vorschlagen kann, aber es ist eine gute Idee. Für mich sollten Lohnforderungen jedoch nicht losgelöst vom Schutz der Gesundheit der Arbeiter*innen sein, vor allem da wir die Dynamik der Arbeit bei Amazon kennen. Der erste Generaldirektor, mit dem wir uns zusammengesetzt haben, Tareq Rajjal, sagte uns: "Dies ist ein Fliessband", aber man kann nicht verlangen, dass die gleichen Leute jeden Tag ihres Arbeitslebens die gleiche Arbeit verrichten. Bei einem Fliessband können Teile brechen, es kann auch die Maschinen kaputt gehen, ganz zu schweigen von einem menschlichen Körper. Wenn ich den ganzen Tag einen Bolzen drehen muss, werde ich mir früher oder später das Handgelenk brechen. Karpaltunnelprobleme, De Quervain-Krankheit, Rücken- und Schulterprobleme, das ist die Norm bei Amazon. Ich habe einen Knorpelmangel an meinem linken Knöchel, weil sie mich einen Job machen liessen, in dem ich den ganzen Tag schwere Güter beförderte und Palettenwagen zog, oft ganz allein. Amazon macht schlimmen Gebrauch von den Arbeiter*innen: Es setzt sie ausschliesslich so ein, wie es der Algorithmus sagt. Wenn der Algorithmus sagt, dass eine Person diesen Job machen kann, dann macht das nur eine Person, und es ist nicht der Chef, der schaut und bewertet. Es ist nur der Algorithmus, der befiehlt. Gesundheit und Sicherheit sind entscheidende Fragen. Auch die psychische Gesundheit: Ich sehe Junge Menschen, zwanzig Jahre alt, die mit Enthusiasmus und Bereitschaft angefangen haben, die sehr schlecht behandelt wurden und nun mit gesenktem Kopf herumlaufen, sie sehen aus wie Zombies, völlig verklärt. Das ist das erste, wogegen ich kämpfen würde. Denn bei Amazon ist die einzig anständige Behandlung diejenige, die den Manager*innen und denjenigen vorbehalten ist, die immer ja sagen: In der Tat reicht es bei Amazon nicht aus, ein "Ja-Mensch" zu sein, sondern man muss ein "Ja, ja, ja-Mensch" sein.


Kürzlich nahmst du an der internationalen Versammlung der Amazon-Arbeiter*innen in Lille teil, wo italienische, französische, deutsche, polnische und amerikanische Arbeiter*innen über die Herausforderungen des Kampfes gegen Amazon diskutierten. Warum findest du es wichtig, sich mit Arbeiter*innen aus anderen Ländern zu organisieren?


Ich glaube, dass wir ein gemeinsames Übel haben und dass wir uns so weit wie möglich vereinen müssen, um ihm zu begegnen. Das erste, was ich wollte, als wir mit der Gewerkschaft in das Lagerhaus kamen, war, Kontakt mit Deutschland aufzunehmen, denn ich wusste, dass es dort bereits eine Bewegung gab. Und dann fuhren wir 2016 nach Poznan zum ersten Treffen von Uniglobal, einer Bewegung zur Verteidigung der Arbeiter*innen, die sich meiner Meinung nach nicht viel von dem unterscheidet, was ich in Lille sah. Es ist wichtig, dass die Arbeiter*innen sich zusammenschliessen, dass sie miteinander reden, dass sie sich gegenseitig Auswege aus bestimmten Situationen aufzeigen, dass sie mehr Informationen austauschen. Es ist wichtig, die Wege zu verstehen und zu teilen, die Menschen gefunden haben, um einige Probleme zu lösen, wie zum Beispiel in Deutschland, wo es gelungen ist, die Einführung von Proxemics mit juristischen Mitteln zu verhindern [ein Richter verhinderte die Installation von Proxemics in Deutschland mit der Begründung, dass es die europäische Datenschutzgesetzgebung verletze]. Man muss das, was Amazon sagt, gegen Amazon verwenden. Sagen sie Sicherheit? Dann behaupten wir, sicher zu arbeiten. Sagen sie Qualität? Dann behaupten wir, dass wir Qualitätsarbeit leisten. Die Produktivität hingegen sollte für uns überhaupt nicht als Kriterium existieren. In einigen Ländern entlässt Amazon Menschen unterhalb bestimmter Produktivitätsschwellen, aber wir sind es, die die Produktivität machen. Bei Amazon sind wir gezwungen, eine gewisse Produktivität zu haben, um unbefristet bleiben zu können. Aber nach diesem "Rennen" müssen wir langsamer werden, ein "Marathon" beginnt, um gesund in den Ruhestand zu kommen, denn mit der Produktivität, die Amazon uns auferlegen möchte, wäre es unmöglich, so lange durchzuhalten. Eine solche Haltung muss von Arbeiter*innen aus verschiedenen Ländern geteilt werden. Wir sollten einen Weg finden, die internationalen Kontakte zu intensivieren und jeden Monat miteinander zu sprechen.

Auch die Genoss*innen der IP in Polen sind regelmässig an Aktionen gegen Amazon beteiligt. Hier solidarisch in Deutschland unterwegs

Bild: Die Arbeiter*innen sind mittlerweile gut vernetzt. Hier schliessen sich Arbeiter*innen der IP aus Polen einem Arbeitskampf in Deutschland an.


In welche Richtung sollte deiner Meinung nach diese transnationale Organisation von Arbeiter*innen gegen Amazon gehen?

Ich spreche seit vielen Jahren von der Notwendigkeit, einen globalen Tag des Streiks und der Proteste der Arbeiter*innen gegen Amazon zu organisieren. Einige Leute haben mir gesagt, das sei nicht machbar, aber ich träume gerne. Wir brauchen einen Weg, um die weit entfernten Arbeiter*innen zu verbinden. Ich dachte zum Beispiel, dass man an einem Tag des Streiks und Protests in der ganzen Welt große Bildschirme vor den Lagerhäusern aufstellen und mit allen anderen am Streik beteiligten Lagerhäusern und Plätzen verbinden könnte, um sich als Teil eines Ereignisses zu fühlen, bei dem Arbeiter*innen aus der ganzen Welt handeln. Die Arbeiter*innen müssen wissen, dass jemand anderes protestiert. Es muss ein Ereignis sein, das bestehen bleibt, es wäre ein Generationswechsel in der Art des Streiks. Es wäre eine Möglichkeit, sich zu verbinden und streikende Arbeiter*innen zu zeigen, sie zum Reden zu bringen, sie zum Austausch von Ideen zu bewegen. Das wäre ein Schritt nach vorn. Sie müssen es nicht am Black Friday tun, denn Amazon erwartet das bereits. Ich mag Überraschungen. Man muss in der Lage sein, eine "positive Panik" zu erzeugen, die dem Unternehmen zu verstehen gibt, dass wir viele und alle miteinander verbunden sind, sie dann in Schwierigkeiten bringen und sie zwingen, zuzuhören. Wir müssen kreativer sein.

 

 

Interview: Precarious Disconnections

Das Original in Englisch findet sich hier: www.transnational-strike.info

 

 

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