Mit der Öffentlichkeit die Angst kompensieren

Im Sommer ging eine Geschichte durch die Schweizer Medien: Im kleinen Städtchen Solothurn wehrten sich Angestellte eines Reinigungsunternehmens erfolgreich gegen miese Arbeitsbedingungen. Massgeblich daran beteiligt waren die Basisgewerkschaften FAU und IWW. Wir haben mit Marc Berger von den Wobblies über den Kampf gesprochen. Er schildert, was sich aus der kleinteiligen Basisarbeit lernen lässt und welche allgemeinen Schlüsse man aus dem ungewöhnlichen Kampf ziehen kann.

Communaut: Hallo Marc, wie muss man sich Solothurn vorstellen, wo ja offenbar eine doch recht grosse Pharmafabrik steht?

Solothurn ist eine Kleinstadt im Schweizer Mittelland mit rund 17'000 Einwohnern. Sie ist eher bürgerlich geprägt, aber in den Vororten gibt es doch auch Industriebetriebe. 2015 ist die grosse amerikanische Pharmafabrik Biogen nach Solothurn gezogen. Das Management hatte den Plan, dort ein riesiges Pharmawerk zu errichten. Dafür erhielt es Unterstützung der bürgerlichen Regierung von Solothurn.

Erwähnenswert ist auch, dass es in der Kleinstadt eine aktive linke Szene gibt, die früher vor allem antifaschistisch ausgerichtet war. Der örtliche Fussballclub hat zum Beispiel eine linke, antifaschistische Fankurve. Zudem gibt es in der Stadt den Infoladen Cigno Nero. In dessen Umfeld treffen sich auch Menschen, die sich gewerkschaftlich organisieren und den Klassenkampf vorantreiben wollen.

Hat diese Milieu etwas mit dem Kampf in der Pharmafabrik zu tun?

Eine jener Personen arbeitete bei der Firma Enzler, einer Reinigungsfirma, die die Fabrik von Biogen reinigt. Dieser Arbeiter wandte sich im Juli 2019 zusammen mit dem Cigno Nero Kollektiv an die FAU und die IWW. Er arbeite in einer Fabrik, wo es viele Probleme gebe und sich die Arbeiter:innen organisieren wollten. Daraufhin sind die Wobblies und die FAU in die Sache eingestiegen. Man muss dazu sagen, dass wir in der überschaubaren Schweiz regelmässig zusammenarbeiten.

Was hat euch der Arbeiter denn erzählt?

Der Mann ist aus der Türkei immigriert und war bereits politisch. In der Fabrik von Biogen ist er auf äusserst prekäre Zustände gestossen: Neben den niedrigen Löhnen waren vor allem die miesen Sicherheitsbestimmungen, die immer wieder zu Unfällen führten, gravierend. Zugleich beschwerte er sich, dass es für die prekarisierten Angestellten schwierig sei, sich zu organisieren. Also haben wir von der FAU und der IWW beschlossen, mit ihm und seinen Kolleg:innen eine Sitzung abzuhalten.

Wie ist dieses erste Zusammentreffen abgelaufen?

Das erste Treffen im Herbst 2019 war chaotisch. Es gab sehr viele verschiedene Anliegen und wir mussten diese etwas bündeln. Wir haben dann klassisch versucht, nach dem Prinzip des Organizing kleine Probleme aufzunehmen und diese kollektiv zu lösen. Dabei haben wir schnell erkannt, dass die vor allem migrantischen Arbeiter:innen bei Lohnabzügen oder Einstufungen falsch beurteilt und benachteiligt wurden.

Dagegen seid ihr dann vorgegangen?

Wir haben einen Workshop organisiert, um den Arbeiter:innen zu erklären, wie sie ihre Lohnabrechnung lesen und verstehen können. Die unrechtmässigen Differenzen, die so erkannt wurden, haben wir dann versucht einzutreiben. Und so ist es uns dann gelungen, einige tausend Franken zurückzuholen. Das ist erstmal nicht wirklich spektakulär, hat aber sicher dazu geführt, dass die Arbeiter:innen ein Vertrauen zu uns entwickelt haben. Ausserdem gab es zuvor gar keine kollektiven Versuche, sich zu wehren.

Das klingt erstmals nach Rechtsberatung. Später gab es aber auch Demonstrationen und weitere Aktionen.

Die rechtliche Ebene war wichtig, um ein Reinigungskollektiv im Betrieb aufzubauen, in dem sich Arbeiter:innen von Enzler mit unserer Unterstützung organisierten. Die Situation und die Dynamik veränderten sich dann 2021 stark, als die Fabrik ihren Vollbetrieb aufnahm: Nun hörten wir viele Klagen von den Arbeiter:innen, dass sie massiven gesundheitlichen Risiken ausgesetzt seien. Die Mittel, die in der Pharmafabrik eingesetzt werden, sind extrem gefährlich, mehrmals mussten Menschen ins Spital, weil sie Blut erbrochen haben. Die Missstände waren frappant. Da haben wir uns entschlossen, in die Offensive zu gehen.

Wie hat diese ausgesehen?

In der Schweiz gibt es ein Arbeitsinspektorat, das Kontrollen durchführt, aber meist zahnlos bleibt. Wir haben dennoch beschlossen, dieses einzuschalten und parallel dazu mit einer Kampagne in der Öffentlichkeit Druck aufzubauen. Dazu haben wir mit den Arbeiter:innen Interviews geführt und die Missstände in einem Brief ans Arbeitsamt zusammengefasst. Dieser Teil des Kampfes war ein defensiver: Eigentlich forderten wir bloß, dass das Arbeitsgesetz eingehalten wird. Zugleich gingen wir in die Offensive und haben weitere Forderungen aufgestellt. Mit diesen sind wir an die Öffentlichkeit gegangen.

Vor und während des Konflikts kam es im Betrieb von Enzler zu homophoben Übergriffen auf eine Personen durch einen Mitarbeiter. Das wurde ebenfalls in den Medien aufgegriffen. In einem Videointerview mit 20Minuten, der auflagenstärksten Tageszeitung der Schweiz, wurde das thematisiert und dann auf die Arbeitsbedingungen hingewiesen. Unsere Vertrauensperson kritisierte diese im Video. Das hat dann leider Repression zur Folge gehabt. Er wurde freigestellt und später gekündigt, ebenso eine weitere Person, die interviewt worden war.

Warum war die Öffentlichkeit so wichtig?

Die Belegschaft bei Enzler besteht fast ausschliesslich aus immigrierten Menschen, deren Aufenthaltsstatus häufig an die Arbeitsstelle gekoppelt ist. Es herrschte große Angst, sich zu sehr zu exponieren und kollektive Aktionen durchzuführen. Um diese Schwäche etwas auszugleichen, ist die Öffentlichkeit ein starkes Mittel. Bereits am Tag nach den ersten Medienberichten haben die Chefs von Enzler eine Betriebsversammlung einberufen und sich über die negative Presse beschwert. Das hat die Firma unter Druck gesetzt.

Gab es im Betrieb selbst auch Aktionen?

Wir haben versucht, den Druck mit gezielten Aktionen zu erhöhen. Etwa indem wir mit Arbeitskleidung vor den Betrieb gingen und mit den Arbeiter:innen in der Fabrik gesprochen haben. Diese haben sich sehr über unsere Aktion gefreut. Aber generell war es sehr schwierig, in einem Klima der Angst zusammen mit der Belegschaft praktischen Widerstand zu leisten. An diesem Punkt sind wir leider noch nicht, ein Streik etwa steht nicht in Aussicht.

Ihr konntet aber auch einige Erfolge verbuchen.

Enzler hat sofort reagiert und vier Instanzen eingeladen, um Kontrollen im Betrieb durchzuführen. Dabei wurden die Arbeitssicherheit und die Löhne unter die Lupe genommen. Die Firma wollte mit einer weißen Weste dastehen. Allerdings haben die Untersuchungen einige Unregelmässigkeiten zu Tage befördert. Daraufhin hat Enzler einen Teil der Löhne angehoben und den Zugang zum Betriebsarzt erleichtert. Schließlich wurden auch die Betriebszeiten angepasst, so dass die Angestellten mindestens jedes zweite Wochenende frei haben. Wir konnten also einige Forderungen durchsetzen. Vor einigen Tagen wurde eine weiter Forderung klammheimlich erfüllt: Das Anziehen der Schutzanzüge gehört nun auch zur Arbeitszeit.

Das klingt schon erfreulicher. Auf ein unschönes Kapitel müssen wir aber noch eingehen: Die grossen Gewerkschaften und ihre unrühmliche Rolle. Was war da los?

Es gibt in der Reinigungsbranche einen Kollektivvertrag, bei dem die große Gewerkschaft Unia als Sozialpartner beteiligt ist. Enzler stellte sich nun während unseres Kampfes auf den Standpunkt, dass sie mit uns nicht verhandle, sondern nur mit dem Sozialpartner. Das Management hat dann eine Veranstaltung organisiert, die für die Arbeiter:innen obligatorisch war. So kamen dann rund 75 Arbeiter:innen zusammen.

Das Manöver war durchschaubar: Damit sollte die Belegschaft gespalten und unsere Position geschwächt werden. Denn nach der Veranstaltung erklärte die Unia, dass sie von den ganzen 75 Personen ein Mandat für Verhandlungen erhalten habe. Das war natürlich Unsinn, was sich auch rasch gezeigt hat. Als die Gewerkschaft eigene nicht mehr obligatorische Veranstaltungen organisierte, kamen erst noch 4 Leute, dann nur noch einer. Der Schachzug hat also nicht funktioniert.

Ihr habt euch von der sozialpartnerschaftlich eingebundenen Gewerkschaft also nicht verdrängen lassen. Seid ihr gegen das Manöver vorgegangen?

Wir haben eine Demonstration organisiert, um die Kampagne in der Öffentlichkeit zu stützen. Die Polizei von Solothurn hat uns dann einen Startplatz dafür zugewiesen, der ausgerechnet vor den Büros der Unia liegt. Entsprechend gab es lautstarke Parolen gegen diese. Generell haben wir aber versucht unsere eigene Stärke zu betonen und so der Unia gar nicht erst den Raum zu geben. Zudem, und das ist nun meine eigene Einschätzung, sollte man sich in solchen Kampfsituationen nicht zu sehr auf die Spaltung fokussieren, die ja wiederum die Belegschaft und den Kampf schwächen kann. Deshalb lag unser Fokus auf uns selbst.

Wie geht es jetzt weiter?

Auch nach der Entlassung unserer Vertrauensperson gibt es noch einen aktiven Kern, wenngleich dieser wegen der Repression etwas kleiner geworden ist. Wir versuchen die Entlassung juristisch zu bekämpfen und das wiederum mit einer Kampagne zu begleiten. Gleichzeitig wollen wir uns auf den Aufbau im Betrieb fokussieren. Das scheint mir das zentrale Anliegen derzeit.

Ihr seid noch mittendrin, dennoch: Kann man allgemeine Schlüsse aus dem spezifischen Kampf und eurer Arbeit ziehen?

Es ist tatsächlich schwierig, bereits ein Urteil zu fällen. Persönlich würde ich sagen, dass wir die Medienarbeit gut gemacht haben. Ich habe aber auch Zweifel: Sind wir zu früh an die Öffentlichkeit gegangen, statt den Aufbau im Betrieb noch ein bisschen weiter voranzutreiben? Allerdings wurden wir dazu auch fast gezwungen, weil die Arbeit im Betrieb nicht mehr auszuhalten war. Wir mussten irgendwie handeln, auch wenn ich mir noch etwas Zeit gewünscht hätte. Beim nächsten Mal würde ich aber, auch wenn wir einigen Erfolg hatten, solideren Strukturen im Betrieb noch mehr Gewicht einräumen.

Wir sind ja erstmal unter dem Radar geblieben und haben das Reinigungskollektiv aufgebaut, bevor wir sichtbar wurden. Dabei haben wir uns vor allem an den Prinzipien des Organizing orientiert und versucht die Leute auf unsere Seite zu ziehen. In den USA gibt es diese Faustregel, dass man mindestens 50 Prozent der Belegschaft auf seiner Seite haben sollte und auch testen muss, ob diese tatsächlich mitziehen, wenn es darauf ankommt. Wir hatten aber einfach keine Zeit dafür, das etwa mit symbolischen Aktionen auszuprobieren.

Das Interview erschien ursprünglich auf communaut.org

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