Liberalfeministische Augenwischerei

Gleich zwei Parlamentsentscheide haben in letzter Zeit für Freude in feministischen Kreisen und darüber hinaus gesorgt: Die am 1. Juli 2020 in Kraft getretene Revision des Gleichstellungsgesetzes und die auf den 1. Januar 2021 in Kraft gesetzten neuen Bestimmungen im Aktienrecht. Erstere soll für mehr Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern sorgen, letztere für eine bessere Vertretung von Frauen in höheren Führungsetagen. Es herrscht also allseitig Freude und Zufriedenheit. Denn wird die Welt dadurch nicht ein bisschen besser und gerechter? Schauen wir einmal genauer hin.

Beginnen wir mit der sogenannten Frauenquote: Die Bank Goldman Sachs begleitet seit Juli 2020 nur noch Börsengänge von Unternehmen mit mindestens einem Vorstandsmitglied mit „diversem Hintergrund“, wenn möglich Frauen. In einem Artikel in Le Monde diplomatique von Dezember 2020 sagt ein Wirtschaftsvertreter, der sich seit langem für mehr Diversität in Unternehmen einsetzt, dazu: „Hier geht es nicht um Altruismus oder gesellschaftliche Verantwortung seitens der Unternehmen. Die Frauenfrage ist eng mit der Frage der Wertschöpfung verknüpft.“ Le Monde diplomatique zitiert beispielsweise eine Studie des Peterson-Instituts von 2016, die ergab, dass der Nettoumsatz eines Unternehmens um 15 Prozent steigt, wenn 30 Prozent mehr Frauen an der Firmenspitze stehen. Ist die angestrebte Revision des Aktienrechts nun feministisch, wirtschaftsfreundlich oder gar beides?

Denn es gibt durchaus feministische Strömungen, die wirtschaftsnah sind – weil diese Feminist*innen selbst den oberen Gesellschaftsschichten angehören und das vorherrschende Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell beibehalten möchten oder weil sie dieses unterstützen, vielleicht aus dem Wunsch heraus, selbst einmal zu den Profiteur*innen dieses Systems zu gehören. Aus welchen Gründen auch immer: Diese Feminist*innen möchten nur Revisionen innerhalb des kapitalistischen Systems und keine grundlegende Veränderung der Gesellschaft. Nennen wir sie der Einfachheit halber „liberale Feminist*innen“. Diese Gruppe geht in der Schweiz leider weit über die (sich selber so nennenden) FDP-Frauen hinaus.

 

Das Problem sind nicht die Reformen

Was uns als radikale oder Anarchafeminist*innen von den liberalen Feminist*innen unterscheidet ist unsere klare antikapitalistische Haltung. Auch wenn „Reformen“ für viele revolutionäre Aktivist*innen schon ein Reizwort ist (weil dadurch bloss das kapitalistische System stabilisiert wird, anstatt dieses ganz abzuschaffen), liegt das Problem nicht eigentlich darin. Denn Reformen können uns dabei helfen, mehr Leute zu erreichen und unsere Bewegungen breiter werden zu lassen; sie können die Lebensbedingungen von weniger privilegierten Menschen konkret verbessern und ihnen somit mehr Luft verschaffen, auch um sich in einem weitergehenden Kampf zu engagieren; die Forderung nach Reformen kann schliesslich auch taktisch als Moment zum Üben und Lernen von Kampfformen angesehen werden und kann zu kleinen Siegen führen, die wichtig für die Motivation und das Fortbestehen einer lebendigen Bewegung sind. Doch all dies ist nur der Fall, wenn die Reformen in einen weiterführenden Kampf eingebunden sind, der schliesslich die Abschaffung der Klassengesellschaft und des Kapitalismus führt, innerhalb derer wirkliche Gleichheit und Gerechtigkeit nicht möglich sind.

 

Wer profitiert davon?

Wenn wir die eingehend erwähnten Gesetzesrevisionen durchlesen, wird jedoch schnell klar, wo das Problem liegt – mit den neuen Bestimmungen, aber auch mit dem liberalen Feminismus im Allgemeinen. Die Schlüsselfrage ist nämlich: Wer profitiert davon? Die beiden Texte haben mehrere Elemente gemeinsam: Die gewünschte Veränderung (mehr Lohngleichheit, mehr Frauen in Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen) sollen herbeigeführt werden, indem Unternehmen ab einer gewissen Grösse einer mehr oder weniger beschränkten Zielgruppe erklären müssen, dass die Veränderung noch nicht eingetreten ist.

Im Hinblick auf die Lohngleichheit müssen die Unternehmen Lohngleichheitsanalysen durchführen. Die Webseite des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann gibt folgende Antwort auf die doch ziemlich wichtige Frage, was mit den Ergebnissen der Lohngleichheitsanalysen passiert: „Die Analyseergebnisse müssen keiner Behörde übermittelt werden, es sei denn, ein anderes Gesetz sieht dies vor [...].“[1] Sie müssen hingegen den Arbeitnehmenden und gegebenenfalls den Aktionär*innen kommuniziert werden.

 

Zahnlose Quote

Nun zu den Frauenquoten: Grosse börsenkotierte Unternehmen mit Sitz in der Schweiz sollen 30 Prozent der Verwaltungsratsstellen und 20 Prozent der Geschäftsleitungssitze mit Frauen besetzen. Wenn diese Werte nicht erfüllt werden, muss im Vergütungsbericht für die Aktionär*innen (der nach der Abzocker*inneninitiative 2013 eingeführt wurde) erklärt werden, weshalb dies nicht der Fall ist und was unternommen werden soll. Die Berichterstattungspflicht beginnt in fünf (Verwaltungsräte) beziehungsweise zehn Jahren (Geschäftsleitungen) zu laufen.

Zusammengefasst sind also in beiden Gesetzen (und den dazugehörigen Verordnungen) weder Kontrollinstanzen noch Sanktionen vorgesehen. Unternehmen, die unter einer gewissen Zahl von Angestellten liegen, sind von diesen Anforderungen komplett entbunden. Für sie sind sogar diese absolut nichtigen Massnahmen freiwillig. Etwas ändern wird sich nur, wenn die Unternehmensleitungen und Aktionär*innen das wollen, weil es in ihrem Interesse liegt. Zu sagen, „die Frauen“ (wer auch immer in diese Kategorie fallen soll) profitierten von diesen Gesetzesänderungen, scheint vor diesem Hintergrund eine ziemlich gewagte Aussage.

 

Mehr Chefinnen macht auch nicht glücklich

A propos mehr Frauen in Geschäftsleitung und Verwaltungsrat: Muss mensch sich denn darüber freuen, dass die Person, die einen ausbeutet, nun eine Frau ist? Das Erreichen eines gewissen materiellen Wohlstands und einer Machtposition geht nicht, ohne dass andere Personen ausgebeutet werden – dies ist ein unveränderbarer Grundsatz des Kapitalismus, der nur aufgrund dieser Ausbeutung existiert. Den erreichten Wohlstand und die gewonnene Macht beibehalten zu wollen führt also dazu, dass sich die Solidarität verschiebt. Weg von den Personen in den weniger privilegierten Klassen hin zu den Menschen in der herrschenden Klasse. Wenn die Solidarität unter Frauen und anderen FLINT-Personen (FLINT steht für Frauen, Lesben, Intersexuelle, Non-Binäre und Transpersonen) die Grundlage unseres Feminismus ist, dann sind diese Feminist*innen, sobald sie aufgrund ihrer neuen gesellschaftlichen Stellung andere Personen ausbeuten, nicht mehr unsere Mitstreiter*innen, sondern stehen auf der anderen Seite der Barrikade.

Was also tun, wenn wir nicht aufgeben und 50 Jahre Frauenstimmrecht feiern und uns mit den Frauenstreikenden zusammen darüber freuen wollen, dass Feminismus gesellschaftstauglich (sprich: keine Gefahr für die kapitalistische, sexistische, rassistische, etc. Gesellschaft mehr ist) geworden ist?

Dem Kampf fürs Frauenstimmrecht und dem feministischen Streik sollen hier keineswegs ihre Relevanz abgesprochen werden und es geht auch nicht darum, eine Polemik über Aktionsformen und Strategie vom Zaun zu brechen. Jede Initiative, die für mehr Gleichheit sorgt, ist unterstützenswert. Doch wir möchten mehr. Wir wollen nicht nur mehr Teilhabe, wir wollen eine andere Gesellschaft.

Bild: 2011-2019 war Christine Lagarde Direktorin des Internationalen Währungsfonds. Sie ist ein Beispiel dafür, dass Frauen an der Spitze nicht bedeuten, dass die Unternehmen und Behörden sozialer umgehen: Die griechische Bevölkerung wurde weiterhin ausgeblutet, Diktaturen weiter am Leben erhalten.

 

Eine neue Ausrichtung

Doch leider beschränkt sich der radikale Feminismus in der Schweiz aus Sicht der Autor*innen heute zu sehr auf die unkritische Beteiligung an den von anderen feministischen Strömungen initiierten Kampagnen, Diskussionen innerhalb relativ beschränkter Gruppen, die nicht in die breitere Öffentlichkeit getragen werden (können), und Online-Aktivismus, der ebenfalls nicht immer sehr zugänglich ist. Gründe dafür sind nicht zuletzt die verwendete Sprache und die fehlende Anbindung an die gesellschaftliche Realität der meisten Menschen, die nicht verstehen können, weshalb sie sich von den angesprochenen Themen betroffen fühlen sollten. Es zeugt von einer gewissen elitären Arroganz, auf Vermittlung und Erklärung zu verzichten, indem mensch sich darauf beruft, „die anderen“ hätten sich selbst zu informieren und sollten sich von sich aus für unsere Themen interessieren.

Wenn der radikale, anarchistische Feminismus nicht zu einem Kampf für die Interessen einiger weniger, zu einer Beschränkung auf unsere individuellen Bedürfnisse verkommen soll, brauchen wir wieder mehr Anbindung an soziale Bewegungen. Wir müssen den Fokus wieder auf breitere Gesellschaftsgruppen und kollektive Interessen öffnen. Nur so können wir eine grössere Basis finden, dank derer wir unsere Ziele erreichen können. Wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, müssen wir uns auf die Gesellschaft einlassen und dürfen uns nicht von ihr abkapseln. Solange wir dabei nicht aus den Augen verlieren, dass wir immer auf die Abschaffung von Patriarchat, Kapitalismus und Rassismus hinschaffen und für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit kämpfen wollen, büssen wir nichts von unserer Radikalität ein – auch wenn wir Allianzen eingehen.

Der aus unserer Sicht lesenswerte Text „Breaking the Waves“ von zwei anarchistischen Feministinnen aus den USA [2] skizziert mögliche Ansätze und beruft sich insbesondere auf das Konzept der sozialen Einmischung, das auch in Schweizer anarchistischen Zusammenhängen wieder vermehrt diskutiert wird. Es zielt darauf ab, dass sich Anarchist*innen offen an breiten sozialen Bewegungen beteiligen. Eine Möglichkeit, sich mit denjenigen Personen solidarisch zu zeigen, mit denen wir als Antikapitalist*innen, Antirassist*innen und Antisexist*innen solidarisch sein sollten; von anderen Aktivist*innen zu lernen und ihnen gleichzeitig unsere Erfahrungen zur Verfügung zu stellen; unsere Strategien und Grundsätze einzubringen und mehr Leute für unseren Kampf zu begeistern.

 

Sich in aktuelle Bewegungen einbringen

Möglichkeiten, sich feministisch und klassenkämpferisch in eine aktuelle soziale Bewegung einzubringen, bieten sich viele. Der Kampf des Pflegepersonals für bessere Arbeitsbedingungen beispielsweise, wo es um Arbeitskampf, Klassensolidarität aber auch die Ausbeutung insbesondere von Frauen, anderen FLINT-Personen und Migrant*innen geht. Aufzuzeigen, wie sehr die kapitalistische Gesellschaft auf der Ausbeutung beruht und wie Bevölkerungsgruppen so stigmatisiert werden, dass die Ausbeutung möglich wird, ist hier ein wichtiger radikalfeministischer Beitrag. Auch im Klimaaktivismus eröffnen sich interessante Perspektiven: Aufrufe zum Gebärstreiks ermöglichen die Debatte um die ökologischen Auswirkungen jedes neuen Menschen auf unserem Planeten genauso wie um die Rolle, die Menschen mit funktionierender Gebärmutter gesellschaftlich aufgezwungen wird, und um Genderrollen und reproduktive Arbeiten (Arbeiten, bei denen es um den Erhalt und die Erneuerung von beispielsweise der Familie oder der Arbeitskraft geht) im Allgemeinen. Auch die Parallelen zwischen der menschlichen Reproduktion, die abgewertet wird, und der Reproduktion oder Regeneration der Natur, der wenig Beachtung geschenkt wird, werden von Ökofeminist*innen schon länger beschrieben. Mit Kreativität, Freude am Nachdenken und am gemeinsamen Kampf werden wir noch viele weitere Verbindungen herstellen können.

Und gerade die Verknüpfung des feministischen Kampfes mit dem Kampf gegen weitere Unterdrückungsverhältnisse macht klar, wofür wir eigentlich kämpfen: für eine gerechte und bessere Welt für alle Menschen. Ein Ziel, das die liberalen Feminist*innen nicht mit uns teilen.

 

 

[1] https://www.ebg.admin.ch/ebg/de/home/themen/arbeit/lohngleichheit/lohngleichheitsanalyse-gleichstellungsgesetz.html
[2] https://anarchistischebibliothek.org/library/romina-akemi-bree-busk-ubersetzung-madalton-breaking-the-waves

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