Streik gegen Rentenreform in Frankreich

So fühlt sich also der Streiktag, oder eher: der Tag des Streikbeginns in mehreren Sektoren, in Paris an. Am Vormittag gegen 9 Uhr, im kalten Nebel: Die Métro-Stationen im Stadtteil sind geschlossen. Auf der am nächsten situierten Linie der Pariser Métro, Nummer 4, war ein Mindestverkehr von einem Drittel der üblicherweise verkehrenden Züge „zu Stoßzeiten“ angekündigt. Zumindest hier vor Ort ist sie jedoch zu. (Am Spätnachmittag dagegen wird die Linie verkehren, allerdings erstaunlich leer: Die meisten Leuten haben wohl nicht damit gerechnet, auf sie bauen zu können.) Buslinien verkehren dagegen hier im nördlichen 18. Pariser Arrondissement, allem Anschein nach sogar in ziemlich regelmäßigen Abständen, allerdings relativ leer. Auch hier scheinen die Leute nicht mit ihnen gerechnet zu haben. Hätte die örtliche Bevölkerung sich nach dem Ausfall der Métro- dann auf die Buslinien gestürzt, wären sie wohl hoffnungslos überfüllt.

Stattdessen sieht man aber vor allem überdurchschnittlich viele Fahrräder. Und im Laufe der Minuten fällt eine gewisse Ruhe auf, die Abwesenheit der sonst üblichen Hektik. Auch kommt es zu keinen besonderen Staus. Alles deutet darauf hin, dass an diesem ersten Streiktag (u.a. im Transportdienst) viele Beschäftigten in anderen Sektoren erst einmal eine Auszeit genommen haben. Nicht, dass sie streiken würden – in der Privatwirtschaft überwiegend nicht -, doch sehr viele nahmen sich einen freien Tag. Oder optierten für Heimarbeit/Bildschirmarbeit. (So auch der Verfasser dieser Zeilen, der ebenfalls ein Berufsleben zu bewältigen hat, überdies als Freiberufler…)

Dies zeigt sich im Laufe des Tages auch beispielsweis an der außerordentlich hohen Zahl von Pariser Einwohnern, die man just an diesem Donnerstag Weihnachtsbäume schleppen oder anderen Besorgungen nachgehen sieht, oft in Begleitung von Kindern, deren Schulunterricht ausfiel.

Nein, ein GENERALstreik ist es nicht (ja, es bräuchte einen solchen, er wäre das probateste Mittel für eine positive gesellschaftliche Entwicklung!). Nahezu alle Läden, Geschäfte, Restaurants sind wie üblich geöffnet, anscheinend auch die meisten Banken. Orange (die privatisierte französische Telekom) macht hingegen erst ab 11 Uhr, und mit Unterbrechungen während des Tages, auf. Wahrnehmbar bestreikt werden die Transportmittel, und sehr viele Schulen. Postämter sind geöffnet, jedoch ebenfalls – wohl aus ähnlichen Gründen wie die Bussitze – erstaunlich menschenleer und ausnahmsweise nicht überfüllt.

Im Grundschulzweig betrug die Streikbeteiligung am Donnerstag unter den Lehrkräften 70 % und lag insgesamt bei 55 %, in Paris erreichte sie dagegen insgesamt gar 78 % -; gestreikt wurde jedoch auch in den Krankenhäusern, aber auch in der Chemie- und der petrochemischen Industrie.

Am frühen Nachmittag dann beginnt die Demonstration, die vom Pariser Ostbahnhof (also von der Gare de l’Est) über die place de la République in Richtung place de Nation (im Pariser Südosten) führen soll. Glitzernde Helme tragende, streikende Feuerwehrleute bahnen sich einen Weg durch die Menge, ihnen wird applaudiert. Einige Feuerwehrleute tanzen auf einem Gitter im Dachgeschoss eines sieben- oder achtstöckigen Wohngebäudes am Boulevard Maganta, viele Blicke richten sich nach oben. Krankenhausbeschäftigte tragen weiße Blusen und Atemschutzmasken. Die CGT (stärkste vertretene Organisation) und SUD haben gut mobilisiert; es gibt auch einen riesigen „Kopfblock“ (cortège de tête) vor den offiziellen Gewerkschaftsblöcken, wo unter anderem auch Linksradikale demonstrieren, die Schwarzvermummten sind klar in der Minderzahl.

Hinzu kommen andere Gewerkschaften in geringerer Anzahl, ganz am Schluss läuft die französische Sozialdemokratie, die Ex-Regierungspartei unter François Hollande (unter 200 Personen; gähn). Unterdessen wurde ein ungewollter Gast, der sich angekündigt hatte, glücklicherweise nicht gesichtet: Auf der extremen Rechten hatte zwar Marine Le Pen – stets um soziale Demagogie bemüht – ihre angebliche „volle Unterstützung“ behauptet und ihren Mitgliedern (in der Partei, wo dieses Vorgehen umstritten ist und von wirtschaftsliberalen Flügelkräften angeprangert wird) „eine Teilnahme freigestellt“. Ihre Partei, der Rassemblement National, wurde jedoch absolut nicht gesichtet, jedenfalls nicht in Paris; Meldungen aus weiteren Städten gilt es diesbezüglich auszuwerten.

Ein echter Mobilisierungserfolg

Mindestens eine Million Demonstrierende in Frankreich, wo am gestrigen Donnerstag in 250 Städten protestiert wurden, lautet die Bilanz – das ist für einen ersten Mobilisierungstag in einer absehbaren Abfolge von Protestterminen ein beachtlicher, ein gewaltiger Auftakt. Auf 806.000 (vgl. https://www.bfmtv.com/societe/806-000-manifestants-selon-l-interieur-la-greve-du-5-decembre-est-l-une-des-plus-fortes-mobilisations-de-la-decennie-1819009.html  ) bezifferte am Abend das französische Innenministerium ihre Gesamtzahl, der Gewerkschaftsdachverband CGT – als einer der Hauptveranstalter – sprach (vgl. https://www.nicematin.com/greve-mouvements-sociaux/plus-de-15-millions-de-manifestants-selon-la-cgt-poursuite-vendredi-tensions-a-paris-mobilisation-massive-contre-la-reforme-des-retraites-437178  ) von 1,5 Millionen.

Solcherlei Abweichungen zwischen Veranstalter- und Polizeizahlen zählen in Frankreich zu den Klassikern bei sozial- und innenpolitischen Auseinandersetzungen. Allgemein wird damit gerechnet, dass die Zahl von einer Seite unter-, von anderer Seite her übertrieben angegeben wird. Florian Bachelier, Abgeordneter der Regierungspartei LREM und einer der Quästoren (eine Art Parlaments-Vizepräsidenten) der französischen Nationalversammlung, räumte gegen 23 Uhr in einer Fernsehdebatte ein, eine Million seien es wohl gewesen.

Wie geht es weiter?

Die entscheidende Frage stellt sich nun ab dem heutigen Freitag: jene der reconduction, also der allüberall in Personalversammlungen zu treffenden Entscheidung darüber, ob die Basis den Arbeitskampf fortsetzen oder aber abbrechen möchte. In vielen Bereichen, vor allem bei der Eisenbahn und in anderen Transportunternehmen, wird mit einer Fortsetzung auch über den Wochenbeginn hinaus gerechnet. Bei der RATP, also den Pariser Verkehrsbetrieben, wurde er am Donnerstag Abend bereits bis mindestens kommenden Montag, den 09. Dezember verlängert. (Vgl. https://actu.fr/ile-de-france/paris_75056/greve-ratp-mouvement-reconduit-jusqua-lundi-pas-damelioration-dans-transports_29925383.html  ) Es sei daran erinnert, dass in Frankreich Lohnabhängige selbst über ihre Ausübung des Streikrechts entscheiden – nicht Gewerkschaftsvorstände wie in Deutschland, wo Streiken ohne erklärte gewerkschaftliche Unterstützung überdies als rechtswidrig gilt, nicht so in Frankreich -, allerdings auch kein Streikgeld erhalten, sondern im Arbeitskampffalle auf ihr Einkommen verzichten.

Dieser Ausstand im Transportwesen führt notwendig auch zu Beeinträchtigungen – aus Arbeitgebersicht – in anderen Wirtschaftszweigen, etwa zum Fernbleiben oder Zuspätkommen von Beschäftigten. Wer ein Auto nutzt, ist zwar nicht auf die RATP angewiesen, steht dafür dann jedoch absehbar im Stau. Am Donnerstag war dieses Phänomen noch nicht derart ausgeprägt, eben weil (vgl. oben) viele abhängig Beschäftigte an diesem 05. Dezember zunächst einmal einen Urlaubstag genommen oder einen Tag Freizeitausgleich angemeldet (oder einen Krankenschein hinterlegt) hatten.

Wirklich spannend wird es ab dem Beginn nächster Woche werden bezüglich der Frage, wie es weitergeht. Dann wird das eigentliche Kräftemessen beginnen, wenn die Privatwirtschaft ernsthafte Verlangsamungen verzeichnet.

Worum geht es?

Einmal wieder, einmal mehr wird in Frankreich eine Renten„reform“ angekündigt.

Begriffe ändern Ihre Geschichte. Wurde vor vierzig von „Reform“ gesprochen, dann wusste man, dass das Gegenüber sich für gesellschaftliche Veränderungen einsetzte, für sozialen Fortschritt, ein besseres Leben anstrebte – jedoch eine Revolution für unnötig oder zu riskant hielt. Hört man hingegen heute aus dem Fernseher oder aus dem Radio, dass eine neue „Reform“ angekündigt wird, dann weiß oder ahnt man: In naher Zukunft wird man bestohlen werden.

Nicht vierzig Jahre, jedoch über ein Vierteljahrhundert ist es her, dass in Frankreich am Rentensystem herum gedoktert wird. Es geht heute um ein weiteres Mal, ein weiteres „Reform“vorhaben nach dem von 1993 – der „Balladur-Reform“ -, nach der „Fillon-Reform“ von 2003 unter dem damaligen Sozialminister François Fillon und Präsident Jacques Chirac, nach der „Woerth-Reform“ von 2010 unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys sowie der „Touraine-Reform“ 2013/14 unter Präsident François Hollande (und seiner „Sozial“ministerin Marysol Touraine).

Einmal mehr soll, wenig originell, das Eintrittsalter in die Rente angehoben werden. Zuletzt war das Mindestalter von 60 auf 62 angehoben worden (2010), doch hatten die bisherigen „Reformen“ vor allem an einer anderen Stellschraube gedreht, nämlich jener, die die Zahl der erforderlichen Beitragsjahre zur Rentenkasse anhebt. Diese betrug bis zu der rückschrittlichen „Reform“ unter Premierminister Edouard Balladur von 1993 noch 37,5 Jahre für alle Beschäftigten, danach 40 Jahre in der Privatwirtschaft; mit der ebenfalls regressiven „Reform“ von 2003 wurde sie nun auch in den öffentlichen Diensten auf 40 angehoben, und mit jener von 2010 auf 41,5 Beitragsjahre für alle Lohn- oder Gehaltsabhängigen. Seit der bislang letzten so genannten „Reform“ von 2013/14 wird die Anzahl der Beitragsjahre, mit Übergangsregelungen (die sich von 2020 bis 2035 hinziehen), sukzessive auf künftig 43 steigen.

Doch noch blieb bislang das offizielle Renteneintrittsalter von 62, wie es 2010 eingeführt worden war (mit voller Wirkung ab 2018), unangetastet. Im europaweiten Vergleich liegt es eher im relativ niedrigen Bereich. Allerdings hat es auch bislang eher einen theoretischen Gehalt. Denn wer weniger als die erforderlichen Beitragsjahre aufweist, muss entweder bis zum Alter von 67 (gültig seit 2017) mit der Pensionierung warten, um eine volle Rente beziehen zu dürfen, oder aber wird mit finanziellen Abzügen an der Pensionszahlung bestraft. Nunmehr soll das Minimalalter auf 64 angehoben werden. Darunter soll eine Verrentung zumindest mit Strafabzügen verbunden sein.

Zuletzt wurde in Frankreich eine Renten„reform“ im Jahr 1995, in Gestalt des so genannten „Juppé-Plans“ – nach dem damaligen Premierminister Alain Juppé benannt – durch eine mächtige Streikbewegung verhindert. Durch das Kippen der damaligen Regierungspläne wurde etwa das Vorhaben gestoppt, die günstigeren Sonderregelungen für die Rente in einzelnen Bereichen, insbesondere bei den Beschäftigten in Verkehrsbetrieben wie der Eisenbahngesellschaft SNCF, aufzuhebeln. Diese sollen nunmehr nach dem Willen der aktuellen Regierung erneut angegriffen werden: Die Rentenregelungen sollen für alle Beschäftigten aneinander angeglichen werden, allerdings „nach unten“, also im Sinne einer Verschlechterung für alle. Dieses Vorhaben wird von Regierungsseite im Namen von „Gerechtigkeit“ und der „Abschaffung von Vorrechten und Privilegien“ gerechtfertigt. Doch schenkt man den Umfragen auch der bürgerlichen Institute Glauben, dann gehen zwei Drittel der Gesellschaft diesem vordergründigen „Anti-Privilegien“-Diskurs nicht auf den Leim, sondern lehnen seine Kernaussage ab.

Ein weiteres Kernstück der „Reform“, mit deren genauen Inhalten die Regierung am liebsten nur scheibchenweise herausrücken möchte – im September dieses Jahres sollte sie bereits auf dem Tisch liegen, doch dann entschied sich Premierminister Edouard Balladur für sukzessive Ankündigungen bis im Juni 2020 -, besteht in der Neuberechnung der Rentenhöhe.

Diese hing bislang von einem Parameter ab, welcher in der Privatwirtschaft und in den öffentlichen Diensten unterschiedlich ausfällt. In der Privatwirtschaft wurde bis zur „Balladur-Reform“ von 1993 ein Prozentsatz (theoretisch 50 Prozent, aufgrund zahlreicher Zusatzregeln real durchschnittlich rund 70 Prozent) des Lohns während der zehn Berufsjahre mit dem besten Verdienst zur Berechnungsgrundlage genommen. Der Grund lag darin, dass man davon ausging, dass der Verdienst in den letzten Berufsjahren zumeist am höchsten ausfällt – jedenfalls besser als in den Anfangsjahren – und dass man denen, die von der Arbeit in Rente abgehen, keinen allzu starken Abfall ihres Einkommensniveau zumuten dürfe. Infolge der „Reform“ der Rechtsregierung aus dem Jahr 1993 wurde diese Berechnungsgrundlage auf die 25 „besten“ Berufsjahre, statt zuvor zehn, gestreckt; dadurch sinkt der Durchschnittswert. In den öffentlichen Diensten gilt die Regel, dass die Berechnungsgrundlage im Gehalt der letzten sechs Monate vor der Verrentung liegt; von ihr ausgehend, werden 75 % des zuletzt empfangenen Gehalts genommen. In den öffentlichen Diensten liegen die Einkünfte oft niedriger als in der Privatwirtschaft, jedoch verlaufen die beruflichen Laufbahnen meistens entsprechend relativ klar vorgestanzter Linien von unteren in höhere Lohngruppen, wenn dem keine negative Benotung entgegensteht.

Die geplante neue „Reform“ soll die Berechnungsgrundlage auf die gesamte Berufskarriere strecken, also künftig auf alle 43 erforderlichen Beitragsjahre (möchte man ohne Abzüge in Rente gehen), statt auf die 25 besten Jahre im privaten Wirtschaftssektor respektive die letzten sechs Monate bei den Staatsbediensteten sowie Kommunalangestellten. Dies bedeutet selbstverständlich eine drastische Absenkung der zu erwartenden Renten.

Zugrunde liegen soll ihnen dann ein Punktesystem; pro gearbeitetem Vierteljahr soll ein bestimmte Anzahl an „Punkten“ angesammelt werden. Der Clou dabei ist, dass der einem Punkt entsprechende Geldwert jährlich vom Parlament neu festgelegt werden soll. Theoretisch – so kündigt es jedenfalls die Regierung denen, die ihr Glauben schenken wollen, an – geht es dabei um eine Anpassung an die Lohnerhöhung für die aktive Erwerbsbevölkerung, also eine Anhebung. Nichts garantiert jedoch, dass es nicht, etwa in Krisenzeiten oder auch wenn die Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialkassen gesenkt werden sollen, auch eine schlichte Absenkung des Punkt-Wertes geben kann. Die Regierung behauptet, dies sei nicht der Fall, da jährlich die „Sozialpartner“ über den Wert eines jeden „Punkts“ verhandeln können sollen; die Regierung solle dies, laut durchgesickerten Teilen der „Reform“pläne, dann berücksichtigen. Nur: Was ist, wenn ihre Verhandlungen ohne Konsens ausgehen, wenn sie scheitern? Oder wenn in Krisenjahren geschwächte Gewerkschaften einer Absenkung von Löhnen zustimmen?

Jean-Paul Delevoye, Sonderberichterstatter der Regierung für die Rentenpolitik, hat mündlich angekündigt, der Kostenfaktor für die Rentenbevölkerung, derzeit 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, solle künftig auf gleicher Höhe stabilisiert werden. Da jedoch gleichzeitig die Anzahl der Senioren an der Gesamtbevölkerung steigt, kann dies wohl nur irgendwie funktionieren, wenn zugleich jede und jeder einzelnen von ihnen künftig eben weniger an Rente erhält.

Die Regierung ihrerseits behauptet, ihr Vorhaben sei „sozial gerechter“, weil dasselbe Punktesystem künftig für alle gelte. Ansonsten müsse man eben auch dem Umstand Rechnung trage, dass die Bevölkerung im Durchschnitt länger lebe als vor fünfunddreißig Jahren (eine progressive Reform, die letzte ihrer Art, hatte 1981/82 das Mindestalter für die Rente auf sechzig abgesenkt), und deswegen müsse man eben später in Rente. Aber: Um wie viel stieg die Arbeitsproduktivität im selben Zeitraum, wie viel Werte schafft ein/e abhängig Beschäftigte/r heute an einem Tag mehr als 1982?

Bislang war Frankreich ein Land, in welchem die Altersarmut zwar vorhanden, jedoch relativ schwach ausgeprägt war, im Vergleich mit Nachbarländern wie etwa Deutschland.

Nun wird befürchtet, dies könne sich mit dem geplanten System umkehren. Es sei denn, die Betroffenen greifen auf private Absicherungen (neben der gesetzlichen Rente) zurück und zahlen etwa in Rentenfonds ein, die das Geld dann etwa in Börsengeschäften anlegen, um zu versuchen, es zu wahren und zu mehren. Genau dies dürfte auch zu den strategischen Zielen der Regierung gehören.

„Zugeständnisse“? Wenig zur Beruhigung der Lage geeignet…

Um dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen, kündigten zwei französische Ministerien am Vorabend des Streik(beginn)tags vom gestrigen Donnerstag an, ihre Untergegeben vor solchen Auswirkungen zu bewahren. Innenminister Christophe Castaner verkündete am Mittwoch, die Polizisten jedenfalls würde ihre eigene Sonderregelung für die Rente bewahren (vgl. https://www.lefigaro.fr/actualite-france/retraites-christophe-castaner-ecrit-aux-policiers-pour-les-rassurer-sur-leurs-retraites-20191204 ) – während alle anderen Sonderregelungen, sofern sie günstiger ausfallen als die gesetzliche Regelrente, eingestampft werden sollen. Natürlich ging es dabei auch darum, Personal für ein eventuelles repressives Vorgehen gegen „ausufernde“ Proteste bei der Hand zu haben, nachdem auch Polizistengewerkschaften und Personalvertreter zuvor eine Beteiligung an den Protesten in Aussicht gestellt hatten. (Vgl. https://www.nouvelobs.com/social/20191203.OBS21860/greve-du-5-decembre-deux-syndicats-de-policiers-appellent-a-des-actions-reconductibles.html ) Am Donnerstag waren allein in Paris 6.000 Polizisten (und Gendarmen) mobilisiert (vgl. https://www.lefigaro.fr/actualite-france/greve-du-5-decembre-a-paris-6000-policiers-et-gendarmes-face-aux-casseurs-20191204 ), in ganz Frankreich war die Hälfte aller überhaupt vorhandenen Polizisten im Einsatz. (Vgl. https://www.marianne.net/societe/cameras-tactiques-paris-le-plan-secret-de-la-prefecture-de-police-pour-le-5-decembre )

Die Pariser Polizeipräfektur oder das Innenministerium, die am Vortag eifrig öffentlich über den erwarteten „schwarzen Block“ und erwartete Randale schwadronierten – und damit wohl die Auseinandersetzung auf dieses Terrain zu verlagern versuchten -, erhielten jedoch nicht, was sie jedenfalls laut Auffassung vieler Opponenten erwartet hatten: eine (in gewissen Grenzen) einkalkulierte und erwünschte Randale als Vorwand etwa für eine Auflösung der Demonstration. Zwar brannten auf der place de la République gegen 15 Uhr mehrere Autos, und die Rauchsäule war von weitem aus der Demonstration heraus zu sehen. Die Gewerkschaften (und ihre Ordnerdienste) entschieden sich jedoch, trotz zeitweiliger Unterbrechung der Demonstration inklusive Tränengasrege, für ihre Fortsetzung, die danach auch relativ reibungslos verlief.

Zusätzlich reagierte das Bildungsministerium auf alarmierende Presseberichte, aus denen hervorging, dass Lehrkräfte – diese werden in Frankreich erheblich schlechter bezahlt als in Deutschland – künftig durch die Renten„reform“ bis zu 1.000 Euro monatlich verlieren könnten, wie selbst kreuzbrave Regionalzeitungen schrieben. (Vgl. https://www.ouest-france.fr/pays-de-la-loire/le-mans-72000/le-mans-greve-du-5-decembre-prof-1-000-de-moins-que-les-actuels-retraites-d9894816-14f2-11ea-b08f-246de41f3a5b ) Prompt reagierte der amtierende Bildungsminister Jean-Michel Blanquer und kündigte an, diesen zu erwartenden Verlust zu „kompensieren“, und zwar durch 300 Euro Gehaltsprämie… jährlich. Hier wird das regierungsoffizielle Verarmungsprogramm (im Hinblick auf künftige Altersarmut) noch um ein staatliches Verarschungsprogramm ergänzt!

Dies steigerte die Wut wahrscheinlich noch, da diese Ankündigung durch die Betroffenen als Hohn betrachtet wurde. Auch wenn der zynische alte Sack, pardon: Herr Serge July – dereinst maoistischer Aktivist im Mai 1968, dann Herausgeber der sozialdemokratischen Tageszeitung Libération, später weiter nach rechts geglitten – sich in einer Studiodebatte am späten Mittwoch Abend im Privatfernsehsender BFM TV darüber wehklagte, dass „zwei Minister schon im Vorfeld des Streiks nachgegeben und dadurch die Protestierenden ermutigt, zur Radikalisierung animiert“ hätten: In Wirklichkeit ist der Zusammenhang wohl eher ein anderer. Der junge Abgeordnete der Linksfraktion (La France insoumise) Adrien Quatennens stellte in einer neuerlichen Studiodebatte beim selben Sender am Donnerstag Abend den Zusammenhang wie folgt dar: „Wenn zwei Ministerien erklären, dass sie ihre Beschäftigten vor den Auswirkungen der Reform besonders schützen müssen, dann widerlegt das den beruhigenden Diskurs der Regierung, die behauptet, es gebe gar keine negativen Auswirkungen.“

Vor Beginn der Proteste zeigten sich 71 % der Französinnen und Franzosen „besorgt“ über ihre Aussichten in Sachen Rente. (https://www.huffingtonpost.fr/entry/avant-le-5-decembre-71-des-francais-preoccupes-par-lavenir-de-leurs-retraites-sondage-exclusif_fr_5de666f3e4b0d50f32a8f660 ) Den Streik, oder eher Streikbeginn, an diesem Donnerstag unterstützen, je nach Umfrageinstitut, 58 bis 69 Prozent der Befragten. (https://www.bfmtv.com/societe/sondage-bfmtv-58percent-des-francais-approuvent-la-mobilisation-contre-la-reforme-des-retraites-en-hausse-1817986.html externer Link und https://www.lci.fr/social/video-sondage-greve-du-5-decembre-69-des-francais-soutiennent-le-mouvement-contre-la-reforme-des-retraites-selon-un-sondage-2139369.html )

Dies sind ähnliche Proportionen wie im Spätherbst 1995. Damals dauerte ein Streik, der seinen Schwerpunkt in den Verkehrsbetrieben SNCF (Eisenbahn) und RATP hatte, jedoch auch andere öffentliche Dienste erreichte, vom 24. November bis kurz vor Weihnachten. Und endete mit der Rücknahme des „Juppé-Plans“, mit dem damals bereits das Rentensystem kahlrasiert werden sollte. Dass sich ein ähnliches Szenario wiederholen könnte – dies stellt den Wunsch vieler Protestierender, und den Alptraum der Regierung dar.

Bernard Schmid, zuerst erschienen auf labournet.de

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